Alma Mahlers Verständnis von Liebe als Kunstwerk vor dem Hintergrund der Religiositätsnothwendigkeit zur Schaffung großer Kunstwerte

, Tochter einer protestantischen und eines katholischen , wurde zwar katholisch getauft, jedoch nicht religiös erzogen. Die frühen Tagebücher überliefern die ambivalente Einstellung gegenüber dem Christentum und der Existenz Gottes, dagegen vertiefte sie sich zusehends in anspruchsvolle philosophische Schriften und bildete ein pantheistisches Verständnis von Religiosität aus (, S. 58, 107 und 168). Indes war überzeugt, dass der aufgeklärte Rationalismus mit einer Einbuße künstlerischer Schöpferkraft einherging, da wahre Kunst nur im Dienst der Religion ihre volle Größe zu erreichen vermöge (, S. 16f. und 330). In der Ehe mit positionierte sich freidenkerisch, wobei sich insbesondere ihr Nietzscheanismus (vgl. , S. 30f.) konträr zur geistigen Welt ihres Ehemanns verhielt, der sich inbrünstig Fragen der christlichen Metaphysik widmete und diese in seinem Kunstschaffen bekundete (, S. 98–100 und 150–163). Seine Liebe zu sah vor diesem Hintergrund als göttlich motiviert: „unbegrenzt und heilig“ solle das Paar von „der Ewigkeit und Göttlichkeit einen Hauch spüren“ (, Nr. 16, S. 117). hingegen zog Parallelen zwischen Kunst und Partnerschaft. Schon als 19jährige formulierte sie ihre Sehnsucht nach einem erfüllten und kunstreichen Liebesverhältnis – „wie ein schöner Accord, wie eine schöne Harmonie“ (, S. 169). Diesem Wunsch entsprach die Auffassung von , zusammen ein lebendes, klassisches Kunstwerk zu schaffen (WG13 vom 23. Juli 1910). Der Briefwechsel zwischen und gibt entscheidende Einblicke in das Verständnis des Zusammenspiels von Kunst, Religiosität und Partnerschaft, in dem die Kunst als Schnittpunkt gewichtig hervortritt.

Wie identifizierte auch den fehlenden Glauben an etwas Übergeordnetes als Ursache für das Brachliegen der Kunst. Die menschliche Leidenschaft habe sich von einer religiösen, die Standesehre wahrenden in eine dezidiert monetäre gewandelt: Es scheint mir in unserem Jahrhundert nur eine Leidenschaft zu geben[:] Geld (WG46 vom 15. oder 16. August 1910; s. auch WG13: Generation der Gottlosen). teilte mit, dass sie mit über Empfinden vom Herzennahen einer reinen, (bewusst) primitiven und keuschen Kunst gesprochen habe (AM23 vom wahrscheinlich 22. August 1910).

Trotz seiner grundsätzlich agnostischen Gesinnung (vgl. WG160 vom spätestens 6. oder 7. Juli 1911) griff auffällig häufig auf religionsbezogene Redewendungen zurück, um seine Sehnsucht und Liebe zum Ausdruck zu bringen: Morgen so Gott will! (WG31 vom 3. August 1910), ich glaube der liebe Gott will uns noch fester zusammenketten (WG33 aus der Nacht vom 4. auf 5. August 1910), Gebs Gott daß Dein gesunder Instinkt mich recht versteht (WG63 vom 2. September 1910). hingegen suchte ihre Gefühle sinnbildlich auszudrücken. Den Geliebten bezeichnete sie als meine aristophelische 2te Hälfte (AM4 vom 19. Juli 1910) und verdeutlichte ihre Emotionalität mit einem Nietzsche-Zitat: meine Seele ist ein springender Brunnen (AM63 vom 26. bis 30. März 1911). Auch in AM100 vom 17. August 1910 zitiert wahrscheinlich eine religions- und metaphysikkritische Nietzsche-Passage: Ob unsere beiden paralellen [!] Wege sich je einst zu einem Einzigen verschmelzen werden – – „weiß ein Gott allein.“ Zu eigen gemachte Glaubenssätze spielten offenkundig für die Beziehung eine gewisse Rolle. Die religiositätsbezogenen Passagen können wiederum auch metaphorisch interpretiert werden: mittels einer Liebesbeziehung ein gemeinsames Kunstwerk zu schaffen.

Im Juli 1911 griff sein Verständnis von Kunst und Religiosität erneut auf und definierte den guten Glaube[n] als unerlässlich, um in den Künsten Großes zu leisten (WG161): Um einen tiefen Eindruck von einer Kirche zu haben muß man gläubig sein. Theologie führte zu allem in der Renaissance, Wissenschaften ins Gefängnis. u gerade die Zeit brachte die größten Charaktere hervor. In ihrer Antwort (AM79 vom 8. Juli 1911) zeigte sich beeindruckt von ’ Ideen von der Religiositätsnothwendigkeit zur Schaffung großer Kunstwerte, formulierte aber keine eigenen Gedanken dazu. Stattdessen betonte sie Glauben an das Transcendentale, das ihn schaffen ließ. Zu sehr an die Erinnerung des unlängst verstorbenen Ehemanns geknüpft, schien dem Thema auszuweichen und beschwor auch zu einer anderen Schaffensgrundlage: Für Dich – der Du in Lebendigem schaffst – muss es Anderes geben (s. auch WG118: meine Kunst wächst in anderem Boden auf). Nachdem den Tod ihres Ehemanns soweit verarbeitet hatte, dass sie ihrem inneren Drang nach persönlichem Vorwärtskommen wieder nachgehen konnte, formulierte sie am 14. Dezember 1911 die leidenschaftliche Forderung: wie es nie stille steht. Und nur so – ein ewiges Weiter – Forwärts [!] –– nur so lasse[.] ich das Leben gelten (AM125). , besorgt über die exaltierte Formulierung, ließ seine Antwort in den vorwurfsvollen Brief einfließen, in dem er ein Resümee des Jahres 1911 zog (WG231 vom 23. Dezember 1911): Das „Weiter“ u „Vorwärts“ \Intensität/ hängt nicht mit der äußeren \betriebsamk.[eit]/ Hast mit ruheloser Unbeschaulichkeit zusammen \Alleserfaßenwollen/ und davor muß ich Dich immer wieder warnen, sei nicht es macht den Eindruck eines sich Betäubens.

In der gesamten Korrespondenz nimmt eine erstrebenswerte Symbiose von Kunst und Liebe einen breiten Raum ein, deren große Bedeutung für und an der Überhöhung durch religiositätsbezogene und philosophische Sinnbilder abzulesen ist. Die Verwirklichung dieses Ideals hatte sich – motiviert durch das beiderseitige Verlangen nach künstlerischem Einklang – durch congeniales Verstehen (WG47 vom 18. oder 19 August 1910) in der Partnerschaft mit erhofft. Eine Erfüllung blieb allerdings aus (vgl. AM146 vom 25. Juli 1913).

Bettina Schuster